Tankred StachelhausJournalist |
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KRITIK REPORTAGE INTERVIEW PORTRÄT AUSGESTELLT DOSSIERS |
DOSSIER: WerdenErläuterungIm Essener Süden liegt Werden. Dort bin ich zur Schule gegangen, traf mich als Heranwachsener mit meiner Clique und gab Gummi als Pizzataxi-Fahrer. Irgendwann klopfte ich bei den "Werdener Nachrichten" an, der ältesten Verkaufszeitung des Ruhrgebietes. Dem ersten Artikel über Werdener Bandprobenräume folgten weitere; und zwischendurch schrieb ich die Magisterarbeit "Identitätsbildung einer Gemeinde durch eine Heimatzeitung am Beispiel der Werdener Nachrichten". Noch heute bin ich dem engagierten Blatt und dem schönen Stadtteil verbunden. Wiedergegeben werden an dieser Stelle zwei Artikel: ein Geburtstagsgruß an die Werdener Nachrichten (-->MITTEN INS HERZ DER LESER) und ein bearbeiteter Auszug aus meiner Magisterarbeit (->WENN HEIMAT, GEMEINSCHAFT UND TRADITION BESCHWOREN WERDEN). Mitten ins Herz der LeserDie Werdener Nachrichten feiern 150. GeburtstagEr schießt schneller als sein Schatten und eilt den Schwachen zu Hilfe. Lucky Luke thront wie ein Schutzheiliger oben auf dem Regal der Redaktion, wie er in der Folge "Daily Star“ selbst zur Drucker- presse greift, um eine kleine Zeitung vor den dummdreisten Dalton-Brüdern zu beschützen. Ein Revolverblatt? Mitnichten. Die wöchentlich erscheinenden Werdener Nachrichten verstehen sich als engagierte Heimatzeitung und als Forum der Werdener, Heidhauser und Fischlaker Bürger. Am Sonntag feiert die wohl älteste Zeitung des Ruhrgebiets ihr 150-jähriges Bestehen. „Die Welt beginnt vor der Haustür“ lautet das Motto der kleinen Heimatzeitung, die in einer Auflage von etwa 7500 Exemplaren im Kleinen das Große sucht. Nur ein kleiner Schlenker von der Werdener Fußgängerzone, schon sitzt man auf einem der beiden durchgesessenen Lederstühle, auf dem schon hunderte Bürger, Politiker, Heimatforscher und Interessenvertreter ihr Anliegen vortrugen. Und nur ein Schritt aus der Haustür, schon ist der Redakteur mitten im Gescheh en. Beispiellos ist die sehr persönlich geschriebene Serie "Ein ehalbe Stunde“, die bereits in der über 240. Folge abseits ausgetretender Wege und abgefrühstückter Themen Neugierde auf die Heimat entfacht. Die „Werdener“, wie sie liebevoll von ihren Lesern genannt wird, gehört zum Ort wie der Heilige Ludgerus. Stückpreis: 90 Pfennig. Das Schwesterblatt der Borbecker Nachrichten lebt von der hohen Bindung der Leser an ihren Stadtteil und prägt ihrerseits die Identifikation. Wie in kaum einem anderen Blatt kommen Leser derart ungekürzt zu Wort. Ihre Briefe, aber auch Artikel zur über 1200-jährigen Geschichte Werdens aus der Feder von Bürgern, tragen von Woche zu Woche zu einer lebendigen Diskussion bei. Sogar bis nach Australien lassen sich Weggezogene die manchmal augenzwinkernd als "Käseblatt“ titulierte Zeitung nachschicken. Im Jahre 1850 gründete Wilhelm Flügge die erste Druckerei von Werden. Der 28-jährige aus Holstein eingewanderte Existenzgründer lastete den Betrieb gleich mit einer eigenen, zwei Mal in der Woche erscheinenden Zeitung aus. Er nannte sie zunächst „Werdener-Kettwiger Wochenblatt“, später „Gemeinnütziges Wochenblatt und Allgemeiner Anzeiger für Werden und Kettwig“ Die Namen und Erscheinungstage wechselten. Zeitweilig hieß die Zeitung sogar „Neue Ruhr Zeitung“. Doch das Konzept blieb: Nachrichten aus aller Welt, viel Unterhaltendes und nur wenig aus Werden. In Selbstanzeigen bewarb Flügge sein reichhaltiges Schreibwarensortiment und einige Tinkturen, deren heilsame Wirkung bis heute umstritten ist. Journalistisch begleitete der backenbärtige Zeitungsgründer die Aufnahme des Dampfschiffverkehrs zwischen Werden und Ruhrort (Hamm), die Einweihung der Werdener Brücke (damals Königsbrücke), den Bau der „Villa Hügel“ und der Eisenbahn durchs Ruhrtal. Nach seinem Tod im Jahre 1893 übernahm Sohn Wilhelm Flügge junior die „Werdener Zeitung“, ließ sich auf einem Hochrad ab-lichten und sicherte sich so ein en Eintrag in der Werdener Historie als rasender Reporter. Ihm gelang es, den bis dahin finanziell wackeligen Verlag auf sichere Fuße zu stellen. Ab 1933 erschien die Zeitung als gleichgeschaltetes nationalsozialistisches Organ mit wenigen lokalen Berichten. Nach Flügges Ableben kam die „Werdener Zeitung“ noch drei Jahre im Fremdverlag heraus, bis sie 1941 eingestellt wurde. Erst mit der Neugründung am 8. Oktober 1948 durch den Werdener Ernst Möller rückte endlich Werden auf die Titelseite und in den Mittelpunkt der Berichterstattung. Mit einer Sonderlizenz der Britischen Militärverwaltung starten die Werdener Nachrichten, die seitdem mit dem Lokalen beginnen und auf überregionale Berichte gänzlich verzichten. Elf Jahre später übernahmen Walter und Franz-Josef Wimmer die Zeitung und bauten sie (wie zuvor die Borbecker Nachrichten) nach dem Vorbild der »local weekly“ aus, die Walter Wimm er in englischer Kriegsgefangenschaft kennenlernte. Die Werdener Nachrichten versteh en sich demnach als wöchentliche Ergänzung der Tageszeitung. Ihr Redakteur Siegfried Theis prägte das Stadtgeschehen über zwei Jahrzehnte lang und gewann etliche Werdener Persönlichkeiten als Mitarbeiter. Mit einer Kamera um den Hals warf er sich in das Getümmel der Fachwerkgassen. Die Redaktion in der Fußgängerzone nannte Theis den schönsten "Arbeitsplatz Werdens". Wie seine Vorgänger trennte ihn erst der Tod von den Werdener Nachrichten. Als Ende April 1986 die Geschäftsräume den Flammen zum Opfer fielen, traf ihn der Schlag an seinem Schreibtisch. Zuvor, so wird überliefert, soll er noch einige Fotos vom Brand gemacht haben. Zum Nachfolger wurde der damals 27-järhige Gereon Buchholz berufen, der sich nach eigenen Angaben vorgenommen hat, „als erster Redakteur die Werdener Nachrichten zu überleben“. Eine Chance, um es despektierlich zu sagen, hat Büchholz jedoch glücklicherweise verpasst. Der Fortbestand der Werdener Nachrichten erschien in den vergangenen drei Jahren mehr als fraglich.. Wie in Borbeck ließ die WAZ-Mediengruppe eine stillschweigende Übereinkunft auslaufen und veröffentlichte in Werden eine Stadtteilbeilage und ein Anzeigenblatt. Die Konkurrenz brachte den Verlag in Bedrängnis und die engagierte Leser-Initiative „Werdener für die Werdener“ hervor. Um noch einmal Comic-Figuren zu bemühen: Wie im kleinen gallischen Dorf von „Astenix und Obelix“ sah man sich von feindlichen Römern umstellt. Seitdem Verleger Walter Wimrner jedoch Anfang des Jahres im Alter von 74 Jahren seine Anteile an den WAZ-Konzern verkaufte, richtet sich der Blick an der Grafenstraße 41 wieder nach vorne. Schließlich gilt es, ein in der Zeitungslandschaft des ruhrgebietes einmaliges Traditionsblatt fortzuführen, das zwar nicht schneller schießt als sein Schatten, aber dafür mitten ins Herz seiner Leser trifft. (© Tankred Stachelhaus / NRZ 1. September 2000) Wenn Heimat, Gemeinschaft und Tradition beschworen werdenIdentitätsbildung einer Gemeinde: Uni-Arbeit reflektiert das soziale Miteinander in WerdenWährend die weltweiten Zusammenhänge trotz der Rede vom »globalen Dorf« immer bedeutender und vielfältiger, aber undurchschaubarer, komplizierter und abstrakter werden, wird zunehmend die »Heimat« nebst Kirchturmspitze wiederentdeckt: Hier kennt man sich noch aus. Im Fernsehen wird von fernen Umweltkatastrophen gesprochen, von Studiengebühren, arbeitslosen Akademikern, Massenunfällen auf der Autobahn und Parteispendenskandalen, die — scheinbar wahllos im unentwegten Strom der Nachrichten aneinandergereiht — den Eindruck vermitteln: »Ist ja wieder allerhand los in der Welt.« Dagegen kommt der fußläufig erreichbaren Umgebung, so etwa einige Kilometer rund um den Fernsehapparat, eine sinnlich erfahrbare Wirklichkeit zu: direkt und ungeschönt. Ein Baum, der auf die Straße fällt, behindert den Weg zur Arbeit, Parkplätze fehlen zum eigenen Ärgernis vor der Haustür, und die neugierige Nachbarin stützt sich mit verschränkten Armen auf einem gehäkelten Kissen schon wieder auf das Fenstersims und merkt sich, wer das Haus betritt und verläßt. Interessant werden hier Nachrichten, die Dinge des täglichen Lebens betreffen. Dies fängt an mit der in einer Kneipe aufgeschnappten Information, daß am nächsten Tag die S-Bahnen ausfallen, geht über die Wurfsendung, die besagt, daß im Supermarkt prima Schweinshaxen im Angebot sind, bis hin zu dem öffentlichen Anschlag, daß eine Bürgerbeteiligung anberaumt wird zu einem Hochhausprojekt, gegen das man schon immer war, weil es die Sicht vom eigenen Balkon ins grüne Tal behindern würde. Kurzum: Im lokalen Raum ist man noch gefordert und man selbst fordert durch Aktionen den lokalen Raum — zunächst nicht mehr und nicht weniger. Und gerade dieses nüchterne Selbstverständnis erscheint neu, wenn man den Begriff »Heimat« auf seine Konnotation hin untersucht. War Heimat einst gleichbedeutend mit der Geburtsstätte und dem Lebensraum, kam in der Romantik und später im Zuge der Verstädterung ein mystisch-idyllischer Beigeschmack von Bergen, Wiesen und Wäldern hinzu, der sich im »Dritten Reich« mit der Lebensraum-Ideologie vermischte. Danach wurde wieder um so stärker die reine, unschuldige und unverdorbene Heimat beschworen; hier wanderten untadelige Förster mit Gamsbart und Schäferhund in zahlreichen »Heimatfilmen« durchs Gebirge, bestaunten die Natur und das holde Weib — eine biedere Idee, die mehr dem Wunsch nach Frieden, Überschaubarkeit und Geborgensein als der Realität entsprach. Wenn heutzutage von Heimat die Rede ist, wer kann sich darunter noch etwas Konkretes vorstellen? Der eigene Stadtteil erscheint als Fläche, die man konsumiert, ob zum Einkaufen oder als Raum für soziale Kontakte. Dennoch trägt jede Einzelne und jeder Einzelne zur Identität des lokalen Raumes bei und fordert dieselbe ein. Identität vermittelt sich durch Interaktion und Aktion der Bewohnerinnen und Bewohner und durch räumliche Merkmale; sprachliche und dingliche Zeichen also, die auf Raum und Bevölkerung einwirken und ebenso von ihnen ausgehen. Wenn hier in dieser Arbeit von »Identitätsbildung einer Gemeinde durch eine Lokalzeitung« die Rede ist, so ist gemeint, daß die Interaktionen von Mensch zu Mensch und Mensch zu Raum immer wieder angeregt werden können, ja letztlich müssen, um lokale Identität zu stiften und zu erhalten. Dies leistet unter anderem eine »Heimatzeitung« wie die »Werdener Nachrichten«.
Der Mensch lebt nicht in einem Territorium, sondern in komplexen gesellschaftlichen Zusammenhängen. Dennoch läßt sich feststellen, daß Siedlungsraum sowohl die physische Voraussetzung als auch das Ergebnis von Sozialverhalten darstellt. Die Grenze ist hierbei eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt. Dieser Raum ist begrenzt, dinglich erfüllt und vernetzt. Die räumlichen Strukturen beeinflussen das soziale Verhalten. So geben die Wohnungsgröße, die Siedlungsform und Straßen den Kommunikationskanal vor. Alle Faktoren, welche die Interaktion einschränken oder fördern, beeinflussen gleichzeitig die Struktur und Organisation der Gemeinde. In den Faktoren selbst drückt sich auch lokale Identität aus. Die Gestalt eines Raumbereiches, die formale-, zeichen- oder symbolhafte Ausprägung, wahrnehmbar in der Architektur und Umwelt, trägt zur Identifikation bei. Solche Zeichen- und Symbolsysteme erfassen die gesamte Erscheinung eines Raumes, von seiner Tektonik über Reklame- oder Verkehrsschildern bis zu den nach außen, zum Straßenraum sichtbaren Wohnungsdetails und den Fassaden. Unter Umständen können auch Gerüche oder Geräusche wie Verkehrslärm hinzugerechnet werden. Laut Albrecht Göschel bringen die Gestalt und Materialität der Gegenstände Menschen dazu, durch die »assoziative Kraft des Raumes« Gefühle und Erlebnisse, Aktivitäten und Interaktionen mit Räumen und Raumzeichen in Verbindung zu setzen. Semiotisch gesehen werden die räumlichen Elemente damit zu Symbolen, zu Trägern von Erinnerungen, von Gedächtnis — ein Prozeß der Symbolisierung, der in situativem Verhalten münden kann. So gibt es etwa beim baulichen Zeichen »Zebrastreifen« eine konkrete Handlungsanweisung. Doch davon unabhängig dienen die baulichen Zeichen zur Bestimmung dessen, was als eigenes Wohngebiet verstanden wird. Dies gilt auch, wenn man nichts mit der Funktion des Gebäudes zu tun hat. Das Bauwerk erscheint dann ausschließlich als Symbol für individuelle Erlebnisse. Durch ihre Dauerhaftigkeit und ständige Präsenz garantieren nach Göschel die Zeichen der baulich-räumlichen Umgebung eine Kontinuität des Zeitablaufes und der Biographie, die aus der ständig »weglaufenden«, abstrakten Zeit nicht gewonnen werden kann. Dies sind unter anderem die Ursachen dafür, warum viele Menschen Widerstände gegen alle Eingriffe in die Gestalt der Umwelt aufbauen. Maurice Halbwachs geht sogar so weit, daß seiner Meinung nach die Mehrzahl der Einwohner den Verlust einer bestimmten Straße oder eines bestimmten Gebäudes als sehr viel stärker empfindet als schwerwiegende nationale politische oder religiöse Ereignisse. Die Widerstände gegen bauliche Veränderungen sind nach Göschel bei denjenigen Gruppen am deutlichsten ausgeprägt, deren Bindung an die Umwelt überwiegend symbolisch vermittelt ist und nicht auf konkreter Nutzung basiert. So genannte Mittelschichtsgruppen sollen durch ihren permanenten Zeitdruck besonders abhängig sein von einer Vergewisserung der Biographie durch Konstanz ihrer räumlichen Umgebung; daher der »Konservatismus« sonst durchaus moderner Gruppen bei Fragen der Umweltveränderung. Göschel kommt zu dem Schluß, daß lokale Identifizierungen in ihrer Bedeutung je nach Schicht, Status, Lebensalter, Familiensituation, Mobilität und anderem variieren: Je höher der Status, je moderner der Lebenszuschnitt, desto ausschließlicher ist für Göschel der Symbolwert des Ortes.
Heimat ist die subjektiv von Individuen oder Kollektiven erlebte territoriale Einheit, zu der ein Gefühl besonders enger Verbundenheit besteht. Dieses Heimatgefühl fußt zum einen auf einem vagen, verschieden besetzbaren Symbol für intakte Beziehungen. Das mag ausgedrückt werden in Landschaft oder Dialekt, in Tracht oder Lied — immer geht es um die Beziehung zu Menschen und Dingen. In dem Begriff Heimat drückt sich ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen sozialen und kulturellen Tatbeständen aus, indem er Sachverhalte verräumlicht. Zum anderen wird Heimatgefühl ausgelegt als Bezug zum Ort der Sozialisierung. Eine solche Bezogenheit wird oft für selbstverständlich, eine Abwesenheit dieses Gefühls als Ausdruck des Verfalls gehalten. Die Verwendung des Begriffes Heimat verortet Identität, sowohl persönliche als auch kollektive, die nie im abstrakten Raum zu realisieren ist. Die Identität bedarf einer erreichbaren Umgebung, auf die Verlaß ist. Sie braucht Haltepunkte, Fixpunkte und dies auch ganz vordergründig im räumlichen Sinne. Und so meint Wilhelm Brepohl: »Der Raum ist [...] nicht nur von außen gegeben, vielmehr strahlt der Mensch seinerseits Ordnung und Gesetz in die Umwelt hinein, und so erst, in dieser Form, eignet sich der Mensch seine Umwelt an, indem er sie verwandelt in seine Heimat.« Dabei wird diese Heimat als ganzes und existentiell dem Individuum zugehörig erlebt. Die Gesellschaft wird vom Menschen vielfach als hochgradig turbulent, komplex und dynamisch eingestuft. Hier heben sich Bewältigungsversuche gegenseitig auf, neu eingefügte Kontrollen provozieren nur neue Unsicherheiten. Diese Gesellschaft wird als am weitesten von der Heimat entfernt eingestuft, aber die ihr Ausgesetzten brauchen Heimat am dringendsten — als Nahwelt, die verständlich und überschaubar ist, als Rahmen, in dem sich Verhaltenserwartungen stabilisieren, in dem sinnvolles, abschätzbares Handeln möglich ist. Heimat erscheint als Gegensatz zu Fremdheit und Entfremdung, als Bereich der Aneignung, der Durchdringung und Verläßlichkeit — denn hier ist der größtmögliche Zeichenapparat aktiviert. Der Begriff Heimat wird immer wieder in die Nähe von nebulösem Geschwätz gebracht, ein Überbleibsel aus der Romantik. Novalis definierte: »Indem ich dem Gemeinen eine [sic!] Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.« In romantisch-pathetischer Nennung erscheint Heimat als ein Kompensationsraum, in dem die Versagungen und Unsicherheiten des menschlichen Lebens ausgeglichen und ihre Annehmlichkeiten überhöht werden. Heimat gerät so zu einer harmonischen, schönen Spazierwelt — eine noch heute verbreitete Vorstellung von Heimat. Hier wird Heimat als verklärende und resignative Ersatzwelt gegenüber den Herausforderungen und Zwängen des häufig sinnentleerten Alltags verstanden. Die Gefahr besteht darin, daß Heimat nur noch an bloßen Äußerlichkeiten, an Fetischen und Alibirequisiten, festgemacht wird. In solch einem Kulissenzauber geht es nicht um die Identität der Menschen in der Gemeinde, sondern nur um das übergestülpte Bild harmlos-farbiger Heimatpräsentation. Rainer Krüger setzt diesem Verständnis Heimat als eine prospektive Lebenshaltung gegenüber. Darunter wird verstanden, daß Menschen im täglichen Miteinander die lokalen Qualitäten der sozialräumlichen Ausstattung sinnvoll konsumieren. In einem ständigen Prozeß der Umweltaneignung sollen gewachsene Strukturen nach zukunftsgerichteten Bedürfnissen weiterentwickelt werden. Heimat gilt dann nicht als Herkunftsnachweis, sondern als Entfaltungs- und Gestaltungsraum.
Jeder Reduktionsversuch, menschliches Leben nur nach dem Lokalitätsprinzip der Gemeinde zu fixieren, erscheint aussichtslos. Lediglich administrative und sozialökonomische Aspekte des sozialen Systems Gemeinde sind lokal determiniert. Überwältigend ist hingegen die Bedeutung von außergemeindlichen Einflüssen. Dennoch, oder gerade deshalb sind, oft Versuche feststellbar, eine lokale Identität zu verordnen. Image-Kampagnen sind dafür ein Kennzeichen, die nicht den Ist-Zustand werbend hervorheben oder Perspektiven aufzeigen, sondern auf meist unangemessenen und realitätsfernen Wunschvorstellungen fußen. Darüber hinaus versuchen oft kommunale Macht- und Entscheidungsträger, mit der Beschwörung einer falsch verstandenen Identität der Orientierung über den Rahmen der Gemeinde hinaus entgegen zu wirken. Roland Narr machte dies fest anhand von standardisierten Reden auf Kinderfesten. Diese dienen auch der Repräsentation von kommunalen Macht- und Entscheidungsträgern. Vielfach beschwören sie als Festredner und Organisatoren mit Pathos die Leitworte Heimat, Gemeinschaft und Tradition. Narr spricht hier von dem »H-G-T-Syndrom«. Diese dienen zusätzlich als Strategie der Konfliktvermeidung. Die Begriffe werden ins Spiel gebracht, um soziale Gegensätze durch ein übergreifendes Identifikations¬muster zu übertünchen. Laut Hermann Bausinger werden solche Reden jedoch nur teilweise perzipiert und akzeptiert, das heißt, sie gehen ins eine Ohr rein und durchs andere wieder heraus. »Es scheint, daß lokale Identifikation in solchen Festen eher metaphorisch als symbolisch erfahren wird, eher in spielerischer Vergegenwärtigung als in pathetischem Ernst.« Eine solche versuchte Vereinnahmung der Bürger durch öffentliche Macht- und Entscheidungsträger kann man als Übertragung der Öffentlichkeit auf die Privatheit sehen. Die durch das »H-G-T-Syndrom« repräsentierten, vermeintlich öffentlichen Werte sollen ihren Anklang im privaten Bereich finden. Diese Vermittlung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit wird auch in umgekehrter Reihenfolge versucht und ausgehend von privaten Interessen der Weg zur Öffentlichkeit gesucht. Dabei soll die Privatheit nicht beseitigt werden, sondern in Öffentlichkeit überführt werden, ohne daß ihre spezifische Form der Nähe und Vertrautheit, der unmittelbaren Orientierung an den Bedürfnissen, verloren geht. Dies ist das Ziel vieler Bürgerinitiativen. Sie wollen die Kluft der die »alltägliche Lebenswelt bestimmenden Realität« und der Politik verringern. Inhaltlich ist ihnen meist daran gelegen, identitätsfreundliche Strukturen gegen die Übergriffe zentraler Planungs- und Wirtschaftstendenzen zu retten.
Die Existenz einer speziellen ortstypischen Kultur gilt als Identitätsmerkmal eines Raumes. Diese kommt meist in Trachten- und Heimatvereinen zum Ausdruck. Vereine kanalisieren die soziale Aktivität, prägen das öffentliche Verständnis von Kultur und bilden Identifikationsangebote, in denen bestimmte sachliche Interessenschwerpunkte bereits mit der Garantie einer gemeinsamen Zuwendung verbunden sind. Vereine vermitteln demnach Identität in erster Linie durch die Vermittlung von gemeinsamen Interessen und damit der Verbreiterung einer sozialen Basis, auf der verhältnismäßig direkte, intensive und sichere Kommunikation möglich ist. Die positiven Funktionen des Vereinswesens heben sich aber immer wieder durch Separatismus, Traditionalismus und Exklusivität auf. So zeigen viele Vereine die Tendenz, sich schon allein durch ihr geschütztes Vereinshaus abzukapseln. Darin sind dann verkrustete Handlungsstile und Entscheidungsstrukturen vorzufinden, die unter anderem auf die Konzentration von männlichen Mitgliedern, dem Versagen, alle sozialen Schichten zu integrieren, und einer Kartellbildung zur Herstellung von Loyalitätsbeziehungen beruhen. Laut Heinz Schilling gelingt es vielen auf Polarität bedachten Hinzugezogenen nicht, souverän zwischen privater und der durch Vereine repräsentierten Öffentlichkeit hin- und hergehen zu können: »Die Öffentlichkeit an ihrem Wohnort ist nicht öffentlich genug, sie ist vor allem von einem vereinsgetragenen Gemeinschaftsideologem überwuchert, welches mit Integration lockt, diese aber erst um den Preis der totalen Assimilation gewährt.« Eine durch lokale Kultur vermittelte lokale Identität erscheint ohnehin als haltlos. Die Differenzierung in räumlich definierte Kulturlandschaften wird nur dem Bereich »repräsentative Kultur« gerecht — also Trachten, spezieller Brauchtum usw. Wichtiger ist die Alltagskultur; und die ist nicht regions-, sondern schichtspezifisch. Ein Jugendlicher findet zum Beispiel mehr in der HipHop-Szene seine Kultur. Diese teilt und pflegt er mit anderen Jugendlichen, egal wo auf der Welt. Mit ihnen hat er mehr zu tun, mit ihnen fühlt er sich mehr verbunden als mit Mitgliedern des Heimatvereins aus der Nachbarschaft, wo aber ebenfalls vielfach die Mitglieder durch ihren Beitritt mehr die Zugehörigkeit zu einer Schicht als zu einem Stadtteil bekunden. Doch auch die Vereine, zum Beispiel die gerade für lokale Kultur häufig zitierten Karnevalsvereine, orientieren sich an gesamtstädtischen oder durch Medien transportierten Vorbildern. Lokale Kulturen wie die Werdener Karnevalsvereine stellen sich meist als vereinfachte Kopien überlokaler Beispiele dar, an die sich dann allerdings lokale Identifikationen knüpfen lassen.
Als südlicher, am Baldeneysee gelegener Stadtteil, übt Werden besonders am Wochenende und bei schönem Wetter eine starke Anziehungskraft für Naherholungssuchenden aus. Zahlreiche Motorradfahrer, Inline-Skater und Spaziergänger setzen sich am Brunnen des Werdener Marktes nieder und verschlingen Eis oder türkischen Döner Kebab Besuchspunkte sind neben der Abtei und Basilika die Luciuskirche, die evangelische Kirche, die Brehminsel und der Altstadtkern mit seinen Fachwerkhäusern und klassizistischen Bauten rund um die Fußgängerzone der Grafenstraße. Von einigen historischen Bauten ist nur noch die Fassade übriggeblieben, der Redakteur der Werdener Nachrichten Gereon Buchholz spricht von Disneyland-Architektur. So gibt es hier das im 14. Jahrhundert gebaute, angeblich schmalste Haus Deutschlands. Doch die Fachwerkfassade mit zugespachtelter Tür ist nur noch an einem größeren Haus »aufgeklebt«, ein leerer Kulissenstil, der an eine aus der Geschichte hergeleiteten Identität anschließen will, ohne sie zu aktualisieren oder wenigstens zu bestätigen. Doch macht die auf Postkarten idyllisierte Altstadt ohnehin nur einen kleinen Teil Werdens aus. Die meisten Menschen wohnen in den 50er-Jahre-Siedlungen rund um den Ortskern, aus der Luftperspektive bestimmen Hochhäuser und eintönige Genossenschaftshäuser alter oder moderner Bauart das von Wäldern umgebene Ortsbild. In Fischlaken und Heidhausen, ehemals fast ausschließlich landwirtschaftlich genutztes Gebiet, sind nach dem Zweiten Weltkrieg viele neue Straßenzüge mit Einfamilienhäusern entstanden. Werden und Werden-Land war lange ein »Einwanderungsgebiet«. Stadtnah zu Essen, nicht weit weg von Düsseldorf und Velbert, inmitten von Grün, ausgestattet mit einer Infrastruktur sowohl für den täglichen Bedarf als auch für kulturelle Angebote — es gibt und gab viele Gründe, sich in Werden anzusiedeln. Noch immer entstehen neue Wohngebäude, während jedoch die Einwohnerzahl zurückgeht. Das heißt, jedem Einwohner steht tendenziell mehr Wohnraum zur Verfügung. Laut der Einwohnerdatei vom 31. Dezember 1999 wohnen 10.327 Menschen in Werden, 4764 in Fischlaken und 6670 in Heidhausen.
Die neuen Einwohner übertreffen in ihrer Anzahl die »alten« Werdener Familien. Dennoch dominieren die Zugezogenen nicht die Alteingessenen, obwohl der von Margot Stacy beschriebene »kritische Punkt« schon längst überschritten seien dürfte, nach dem das System »Gemeinde« deutlich seinen Zustand ändert. Doch berücksichtigt ein solches Verständnis nicht die Möglichkeit, daß viele Zuwanderer sich bewußt für Werden gerade wegen der vermeintlich oder tatsächlich vorgefundenen Identität entscheiden. Damit einher geht die hohe Bereitschaft, sich auf den Ort einzulassen und eine starke Orientierung an den Einheimischen. Ein guter Teil der Zugezogenen definiert sich über diese Alteingessenen, die von ihnen repräsentierten und gelebten sozialen Strukturen werden internalisiert. Dies ist weniger ein Prozeß der Assimilation als ein Prozeß der Integration. Der geflügelte waddische Spruch »Et ge-iht nix vör Wadden« ist Ausdruck des Identifizierung zwischen den beiden Gruppen. Man ist stolz darauf, in Werden/Werden-Land zu wohnen und sich der Identität des Ortes bewußt, die paradoxerweise zum Teil nur dadurch existiert, weil sie explizit als Wunsch nach einer überschaubaren und gestaltbaren Ordnung gewollt wird. Dies geht einher mit einer regen Beteiligung an identitätsbildenden Strukturen, die sogar in erster Linie von den Zugezogenen getragen werden, sei es durch ein Engagement in konkreten Bürgerinitiativen, zum Beispiel die Patenschaft für einen Kinderspielplatz oder die Mitwirkung bei einem Heimat- oder Schützenverein. Oft gehören die Zugezogenen, die meist aus der Mittelschicht kommen und sich als Bildungsbürger verstehen, zu den aktivsten Mitgliedern, die sich »einmischen« und die stetig die Identität des Ortes in Gefahr sehen. Möglich werden die Integration und der Zusammenhalt der Werdener Bevölkerung durch den Austausch lokaler Zeichensysteme. Die damit verbundenen Handlungsanweisungen müssen von den Zugezogenen erst verinnerlicht, die zahlreichen Nutzungsmöglichkeiten und Einrichtungen des Ortes entdeckt werden. Dazu bedarf es Informationen; oft kommt es vor, daß sich designierte Neubürger schon vor dem eigentlichen Umzugstermin ein Abonnement der WN bestellen. Die WN müssen daher eine Orientierungshilfe für alle Einwohner geben — ob zugezogen oder alteingesessen —, um eine von allen partizipierte Identität des Ortes zu gewährleisten.
Laut einer Umfrage von 1991 gaben 98 Prozent der 241 Befragten an, »sehr gerne oder gerne« im Essener Süden zu wohnen. Als Grund werden die »günstigen Lebensbedingungen«, besonders »viele Grünzonen«, aber auch »wenige sozial Schwache« vermutet. Tatsächlich findet sich in Werden, Fischlaken und Heidhausen eine niedrige Arbeitslosenquote von fünf Prozent. Die Mehrheit der Einwohner von Werden, Fischlaken und Heidhausen gehören zu den sogenannten Besserverdienenden, das durchschnittliche Haushaltsnettoeinkommen zählt zu den höchsten der Stadt Essen. Somit sind die Einwohner in der Lage, sich das im Vergleich zu Essen hohe Mietpreisniveau oder die hohe Anzahl von Eigentümerwohnungen leisten zu können. Überdurchschnittlich hoch ist in Werden und Werden-Land das Bildungsniveau, viele Einwohner besitzen die Hochschul- oder Fachhochschulreife (27,4 Prozent) oder einen Realschulabschluß (23,3 Prozent). Dies geht damit einher, daß in den drei Stadtteilen unterdurchschnittlich wenig Arbeiter (21,5 Prozent), dafür aber ein überdurchschnittlicher Anteil von Selbständigen (13,3 Prozent), Beamten und Angestellten (65,2 Prozent) zu finden sind. Dennoch ist es schwer vorstellbar, daß neben »vielen Grünzonen« der Punkt »wenige sozial Schwache« ein ausschlaggebender Grund für die Zufriedenheit mit Werden und Werden-Land der Bewohner ist — zumindest wäre es ein Armutszeugnis einer Bevölkerung, die dem Elend aus dem Weg gehen will. Doch fällt es vermutlich leichter, eine Bindung zu einem Ort aufzubauen, der über eine halbwegs homogene Bevölkerungsstruktur verfügt, wo die Beteiligten auf einer sozialen Ebene interagieren können und sich nicht mit schwierigen Problemen, die soziale Brennpunkte mit sich bringen, auseinandersetzen müssen. So erscheint die von diesem Teil der Werdener Bevölkerung repräsentierte Identität zum einen als elitär, zum anderen in weiten Maßen als überschaubar und harmlos. Doch mag es einen Unterschied geben zwischen denjenigen, die Identität bewußt betreiben, und denjenigen, die Identität konsumtiv leben. Beide Gruppen sind an der Bildung der Identität beteiligt, beide formen bewußt oder unbewußt den Ort. Dies ist nur möglich durch ein überdurchschnittliches Maß an sozialer Integration der Werdener Einwohner, letztlich der Grund für die hohe Zufriedenheit mit dem Wohnort. Das Gefühl, in der Gemeinde aufgenommen zu werden, machen selbst die schönste Gegend und die historischsten Gebäude nicht wett. Und aufgenommen erscheint derjenige, der potentiell die Möglichkeit hat, im kleinen oder großen Rahmen »mitzuwirken«. (© Tankred Stachelhaus / WN 18. Juli 2008. Alle Bilder: WN-Archiv) |